Panel 5

Digitale Subjektivierung und Sozialität (auf deutsch)

Moderation: Frank Hillebrandt (Hagen)

In der subjektivierenden Kraft der Algorithmen spiegelt sich […] immer auch das Kräfteverhältnis wider, das die Sozialität per se durchzieht.

09:30–10:10 Uhr
Thorben Mämecke (Hagen): ‚Welcome to the Machine‘. Digitale Subjektivierung und soziotechnische Algorithmik

Der Algorithmus stellt nicht nur das Scharnier zwischen ‚Maschine‘ und Digitalisierung dar. Er fungiert auch als kulturkritisch aufgeladenes Konzept zur Beschreibung soziotechnischer Interaktionen, an dem sich Ideengeschichtlich die Aktualität gesellschaftlicher Steuerungsparadigmen ablesen lässt. Während er unter industriegesellschaftlichen Bedingungen vor allem das restriktive Arrangement sozialer Entitäten beschreibt, markiert er in seiner informationstechnischen Variante gerade die flexiblen Eigenschaften technischer und sozialer Systeme. In der Gegenwart von Industrie 4.0IoT und Wearable Technologies bindet er nicht mehr (nur) physische Entitäten in feste und vorstrukturierte Abläufe ein, sondern schaltet sich forschend, vermittelnd und konstruierend zwischen die Entitäten, um unter den Bedingungen räumlich differenzierter, individualisierter Lebensweisen, weithin diffuser Arbeitspraxen oder des ubiquitären wie opaken Pandemiegeschehens der modernen Gesellschaft Orientierungsdaten zu sammeln und Ordnungsmuster zu generieren. Die Emergenz entsprechender Algorithmen lässt sich dabei aber keineswegs vollständig durch ökonomische Rationalisierungsthesen erfassen. In der subjektivierenden Kraft der Algorithmen spiegelt sich vielmehr immer auch das Kräfteverhältnis wider, das die Sozialität per se durchzieht.

Dr. Thorben Mämecke, Soziologe und Medienwissenschaftler, ist Geschäftsführer des interdisziplinären Forschungsschwerpunktes digitale_kultur an der Fernuniversität Hagen. Er lehrt und forscht mit den Schwerpunkten Subjektivierung und Gouvernementalität im Kontext von Technologiediskursen sowie Dataveillance und Data driven Armament. Er hat 2018 am Graduiertenkolleg Automatismen zum Thema progressive Selbstverdatung  promoviert:

www.dasquantifizierteselbst.de

Im Rahmen einer „Therapie- und Beratungskultur“ erscheint [Selbstvermesung] als eine neuartige Form der Selbstthematisierung, die kybernetische Subjekte adressiert […].

10:10–10:50 Uhr
Eryk Noji (Hagen): Das kybernetische Subjekt. Selbstthematisierung im Self-Tracking

Der Vortrag geht der Kybernetisierung des Subjekts in der Selbstvermessung nach. Digitale Selbstvermessung wird zunächst als Verfahren verstanden, mit dessen Hilfe Anwender*innen sich im Alltag orientieren können. Im Rahmen einer „Therapie- und Beratungskultur“ (Burkart 2006) erscheint sie als eine neuartige Form der Selbstthematisierung, die kybernetische Subjekte adressiert und damit Coachingtechniken (Traue 2010, 2013) oder Glücksratgebern (Duttweiler 2007) ähnelt. Das kybernetische Subjekt ersetzt eine Substanzlogik durch eine Konstruktionslogik. Diese beiden Logiken stehen in der Selbstvermessung in einem Spannungsverhältnis, insofern einerseits das Bild eines Datenspiegels geläufig ist, der den Nutzer*innen die Wahrheit über sich selbst aufzeigt, dies andererseits aber lediglich als Startpunkt für Konstruktionen im Rahmen des Steuerungs-paradigmas dient.

Eryk Noji ist Koordinator der interdisziplinären Forschungsgruppe „Figurationen von Unsicherheit“ und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für soziologische Gegenwartsdiagnosen an der FernUniversität in Hagen. Er promoviert über Selfvermessung als Modus kybernetischer Selbstthematisierung. Zuvor hat er im Projekt „Taxonomien des Selbst. Genese und Verbreitung kalkulativer Praktiken der Selbstinspektion“ geforscht.

Auffällig ist […], dass insbesondere junge Frauen sich kulturelle Techniken auf Social Media, wie z.B. Tanzvideos aneignen, um auf Beziehungsgewalt aufmerksam zu machen.

10:50–11:30 Uhr
Hanna Klimpe (Hamburg): Empowerment, Educational Challenges und Rechtsextremimus. TikTok zwischen theatraler Ästhetik und Zensur durch Algorithmen

Die 2017 gestartete Kurzvideo-App TikTok stellt insofern ein Novum im Social-Media-Diskurs dar, als sie neben Telegram die erste weltweit stark genutzte Plattform ist, die nicht im Silicon Valley entwickelt wurde. Die zur chinesischen Firma Bytedance gehörende App galt zunächst als relativ unpolitische Plattform, die vor allem eine sehr junge Zielgruppe anzieht. Gleichzeitig stand die App schon früh in der Kritik, nachdem Richtlinien geleakt wurden, laut denen die Plattform Inhalte, die Kritik an der chinesischen Regierung beinhaltet, zensiert. Auch LGBTQI*-Inhalte fielen der Zensur nachweislich zum Opfer.

Gleichzeitig haben sich auf TikTok unterschiedlichste Formen von politischen Inhalten herausentwickelt. Auffällig ist hierbei, dass insbesondere junge Frauen sich kulturelle Techniken auf Social Media, wie z.B. Tanzvideos aneignen, um auf Beziehungsgewalt aufmerksam zu machen. Weltweit bekannt wurde die damals 17-jährige Feroza Aziz, als sie 2019 durch ein gefaktes Make-Up-Tutorial die Erkennungsalgorithmen von politischen Inhalten austrickste und auf die Unterdrückung der Uiguren in China hinwies. Aber auch massiv fehlgeleiteter Content wie die „Holocaust-Challenge“ oder rechtsextreme Inhalte werden auf TikTok veröffentlicht. Die Strukturen und Mechanismen politischer Inhalte der App, die so gut wie keine andere die Meme-Kultur des Internets repräsentiert, soll in diesem Vortrag diskutiert werden.

Prof. Dr. Hanna Klimpe ist Professorin für Social Media an der HAW Hamburg. Sie studierte Französisch, Philosophie, Journalistik und Kommunikationswissenschaften an den Universitäten Hamburg und Bordeaux und promovierte zweisprachig über Theater als Modell für Spielräume der Handlungsfreiheit am Institut für Romanistik der Universität Hamburg und der UFR Sciences Sociales der Université Paris VII. Sie war bereits als Professorin für Digitale Kommunikation & Change an der Hochschule für Angewandte Sprachen des SDI München tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Formen und Ausprägungen digitaler Selbstinszenierung, politischen Kommunikations- und Narrationsdynamiken in Social Media, der Verschränkung von künstlerischem Ausdruck und politischem Handeln auf Social Media sowie sozialen Medien als Ort für (Gegen-) Öffentlichkeiten und Widerstand . Außerdem ist sie als Digitalberaterin und Social-Media-Strategin tätig, betreute studentische Kommunikationsprojekte u.a. mit Greenpeace oder tagesschau.de. und schreibt seit 2005 als Journalistin u.a. für die tageszeitung, Financial Times Deutschland, TUSH Magazine, Vogue.de oder Courrier International.