Tag 3 [Freitag, 05.03.2021]

PANEL 5: DIGITALE SUBJEKTIVIERUNG UND SOZIALITÄT (auf deutsch)
Moderation: Frank Hillebrandt (Hagen)

In der subjektivierenden Kraft der Algorithmen spiegelt sich […] immer auch das Kräfteverhältnis wider, das die Sozialität per se durchzieht.

09:30–10:10 Uhr
Thorben Mämecke (Hagen): ‚Welcome to the Machine‘.
Digitale Subjektivierung und soziotechnische Algorithmik

Der Algorithmus stellt nicht nur das Scharnier zwischen ‚Maschine‘ und Digitalisierung dar. Er fungiert auch als kulturkritisch aufgeladenes Konzept zur Beschreibung soziotechnischer Interaktionen, an dem sich Ideengeschichtlich die Aktualität gesellschaftlicher Steuerungsparadigmen ablesen lässt. Während er unter industriegesellschaftlichen Bedingungen vor allem das restriktive Arrangement sozialer Entitäten beschreibt, markiert er in seiner informationstechnischen Variante gerade die flexiblen Eigenschaften technischer und sozialer Systeme. In der Gegenwart von Industrie 4.0, IoT und Wearable Technologies bindet er nicht mehr (nur) physische Entitäten in feste und vorstrukturierte Abläufe ein, sondern schaltet sich forschend, vermittelnd und konstruierend zwischen die Entitäten, um unter den Bedingungen räumlich differenzierter, individualisierter Lebensweisen, weithin diffuser Arbeitspraxen oder des ubiquitären wie opaken Pandemiegeschehens der modernen Gesellschaft Orientierungsdaten zu sammeln und Ordnungsmuster zu generieren. Die Emergenz entsprechender Algorithmen lässt sich dabei aber keineswegs vollständig durch ökonomische Rationalisierungsthesen erfassen. In der subjektivierenden Kraft der Algorithmen spiegelt sich vielmehr immer auch das Kräfteverhältnis wider, das die Sozialität per se durchzieht.

Dr. Thorben Mämecke, Soziologe und Medienwissenschaftler, ist Geschäftsführer des interdisziplinären Forschungsschwerpunktes digitale_kultur an der Fernuniversität Hagen. Er lehrt und forscht mit den Schwerpunkten Subjektivierung und Gouvernementalität im Kontext von Technologiediskursen sowie Dataveillance und Data driven Armament. Er hat 2018 am Graduiertenkolleg Automatismen zum Thema progressive Selbstverdatung  promoviert:

www.dasquantifizierteselbst.de

Im Rahmen einer „Therapie- und Beratungskultur“ erscheint [Selbstvermesung] als eine neuartige Form der Selbstthematisierung, die kybernetische Subjekte adressiert […].

10:10–10:50 Uhr
Eryk Noji (Hagen): Das kybernetische Subjekt. Selbstthematisierung im Self-Tracking

Der Vortrag geht der Kybernetisierung des Subjekts in der Selbstvermessung nach. Digitale Selbstvermessung wird zunächst als Verfahren verstanden, mit dessen Hilfe Anwender*innen sich im Alltag orientieren können. Im Rahmen einer „Therapie- und Beratungskultur“ (Burkart 2006) erscheint sie als eine neuartige Form der Selbstthematisierung, die kybernetische Subjekte adressiert und damit Coachingtechniken (Traue 2010, 2013) oder Glücksratgebern (Duttweiler 2007) ähnelt. Das kybernetische Subjekt ersetzt eine Substanzlogik durch eine Konstruktionslogik. Diese beiden Logiken stehen in der Selbstvermessung in einem Spannungsverhältnis, insofern einerseits das Bild eines Datenspiegels geläufig ist, der den Nutzer*innen die Wahrheit über sich selbst aufzeigt, dies andererseits aber lediglich als Startpunkt für Konstruktionen im Rahmen des Steuerungs-paradigmas dient.

Eryk Noji ist Koordinator der interdisziplinären Forschungsgruppe „Figurationen von Unsicherheit“ und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für soziologische Gegenwartsdiagnosen an der FernUniversität in Hagen. Er promoviert über Selfvermessung als Modus kybernetischer Selbstthematisierung. Zuvor hat er im Projekt „Taxonomien des Selbst. Genese und Verbreitung kalkulativer Praktiken der Selbstinspektion“ geforscht.

Auffällig ist […], dass insbesondere junge Frauen sich kulturelle Techniken auf Social Media, wie z.B. Tanzvideos aneignen, um auf Beziehungsgewalt aufmerksam zu machen.

10:50–11:30 Uhr
Hanna Klimpe (Hamburg): Empowerment, Educational Challenges und Rechtsextremimus. TikTok zwischen theatraler Ästhetik und Zensur durch Algorithmen

Die 2017 gestartete Kurzvideo-App TikTok stellt insofern ein Novum im Social-Media-Diskurs dar, als sie neben Telegram die erste weltweit stark genutzte Plattform ist, die nicht im Silicon Valley entwickelt wurde. Die zur chinesischen Firma Bytedance gehörende App galt zunächst als relativ unpolitische Plattform, die vor allem eine sehr junge Zielgruppe anzieht. Gleichzeitig stand die App schon früh in der Kritik, nachdem Richtlinien geleakt wurden, laut denen die Plattform Inhalte, die Kritik an der chinesischen Regierung beinhaltet, zensiert. Auch LGBTQI*-Inhalte fielen der Zensur nachweislich zum Opfer.

Gleichzeitig haben sich auf TikTok unterschiedlichste Formen von politischen Inhalten herausentwickelt. Auffällig ist hierbei, dass insbesondere junge Frauen sich kulturelle Techniken auf Social Media, wie z.B. Tanzvideos aneignen, um auf Beziehungsgewalt aufmerksam zu machen. Weltweit bekannt wurde die damals 17-jährige Feroza Aziz, als sie 2019 durch ein gefaktes Make-Up-Tutorial die Erkennungsalgorithmen von politischen Inhalten austrickste und auf die Unterdrückung der Uiguren in China hinwies. Aber auch massiv fehlgeleiteter Content wie die „Holocaust-Challenge“ oder rechtsextreme Inhalte werden auf TikTok veröffentlicht. Die Strukturen und Mechanismen politischer Inhalte der App, die so gut wie keine andere die Meme-Kultur des Internets repräsentiert, soll in diesem Vortrag diskutiert werden.

Prof. Dr. Hanna Klimpe ist Professorin für Social Media an der HAW Hamburg. Sie studierte Französisch, Philosophie, Journalistik und Kommunikationswissenschaften an den Universitäten Hamburg und Bordeaux und promovierte zweisprachig über Theater als Modell für Spielräume der Handlungsfreiheit am Institut für Romanistik der Universität Hamburg und der UFR Sciences Sociales der Université Paris VII. Sie war bereits als Professorin für Digitale Kommunikation & Change an der Hochschule für Angewandte Sprachen des SDI München tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Formen und Ausprägungen digitaler Selbstinszenierung, politischen Kommunikations- und Narrationsdynamiken in Social Media, der Verschränkung von künstlerischem Ausdruck und politischem Handeln auf Social Media sowie sozialen Medien als Ort für (Gegen-) Öffentlichkeiten und Widerstand . Außerdem ist sie als Digitalberaterin und Social-Media-Strategin tätig, betreute studentische Kommunikationsprojekte u.a. mit Greenpeace oder tagesschau.de. und schreibt seit 2005 als Journalistin u.a. für die tageszeitung, Financial Times Deutschland, TUSH Magazine, Vogue.de oder Courrier International.

PANEL 6: SOZIALE, KULTURELLE UND ETHISCHE FOLGEN NEUER MENSCH-MASCHINE-INTERAKTION (auf deutsch)
Moderation: Johanna Seifert (Hagen/München)

12:00–12:40 Uhr
Janina Loh (Wien): Verantwortung in der Mensch-Roboter-Interaktion

In meinem Vortrag gehe ich in drei Schritten vor: Im ersten Teil umreiße ich das traditionelle Konzept der Verantwortung mit seinen fünf Relationselementen und fasse die Bedingungen zusammen, die erfüllt sein müssen, um jemanden als potenziell verantwortlich zu bezeichnen. Im zweiten Teil meines Vortrags skizziere ich die drei Arbeitsfelder der Disziplin der Roboterethik, indem ich zwischen Robotern als potenziellen moralischen Subjekten, Robotern als Objekten moralischen Handelns und inklusiven Ansätzen unterscheide. Im dritten Teil meines Vortrags schließlich werde ich das Phänomen der Verantwortung innerhalb dieser drei Felder der Roboterethik analysieren – Roboter als verantwortliche Subjekte, Roboter als Objekte verantwortlichen Handelns und Verantwortung in Bezug auf inklusivere Ansätze. Aus naheliegenden Gründen beschränkt sich die Untersuchung auf die moralische Verantwortung und schließt andere wichtige Verantwortlichkeiten wie etwa die strafrechtliche oder die politische Verantwortung aus.

Janina Loh (geb. Sombetzki) ist Universitätsassistentin (Post-Doc) im Bereich Technik- und Medienphilosophie an der Universität Wien. Loh hat an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und von 2009 bis 2013 im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Verfassung jenseits des Staates: Von der europäischen zur Globalen Rechtsgemeinschaft? zum Thema Verantwortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe. Eine Drei-Ebenen-Analyse (2014 bei Springer VS erschienen) promoviert. Von 2013-2016 war Janina Loh als Post-Doc an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beschäftigt. 2018 erschien von Loh die erste deutschsprachige Einführung in den Trans- und Posthumanismus (Junius), 2019 Einführung in die Roboterethik (Suhrkamp). Lohs Habilitationsprojekt entwirft eine Inklusive Ethik der Gefährt*innenschaft (Arbeitstitel). Zu den engeren Forschungsinteressen zählen neben der Verantwortung, dem Trans- und Posthumanismus und der Roboterethik auch Hannah Arendt, feministische Technikphilosophie, Theorien der Urteilskraft sowie Ethik in den Wissenschaften.

Im Zuge des Fortschritts der KI und der Robotik entstehen neue MMI, in denen technische Systeme zusehends vermenschlicht werden.

12:40–13:20 Uhr
Armin Grunwald (Karlsruhe): Herr Kollege Roboter.
Von der Anthropomorphisierung der Technik und der Selbst-Technisierung der Menschen

Im Zuge des Fortschritts der KI und der Robotik entstehen neue MMI, in denen technische Systeme zusehends vermenschlicht werden. Dies lässt sich an vielfach verwendeten Sprachgebräuchen belegen. Diese Systeme werden zusehends als Gegenüber des Menschen „auf Augenhöhe“ beschrieben, so etwa, wenn für die entstehende Industrie 4.0 vom „Kollegen Roboter“ gesprochen wird. Umgekehrt zieht über die digitale Selbstmodellierung des Menschen als datenverarbeitende Maschine, sozusagen als Computer auf zwei Beinen, eine zunehmend technische Selbstbeschreibung des Menschen in Alltagssprache und Wahrnehmung ein. Im Vortrag werde ich beide Tendenzen erläutern und belegen sowie Schlussfolgerungen in ethischer und anthropologischer Hinsicht ziehen.

Prof. Dr. rer. nat. Armin Grunwald studierte Physik, Mathematik und Philosophie. 1987 promovierte er an der Universität zu Köln, 1998 folgte die Habilitation mit Venia legendi an der Universität Marburg im Fach Philosophie. Von 1991-1995 war Armin Grunwald im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt tätig, von 1996-1999 war er stellvertretender Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Seit 1999 ist er Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), sowie seit 2002 Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Seit 2007 ist Armin Grunwald Professor für Technikethik und Technikphilosophie am KIT. Zu seinen Arbeitsgebieten zählen: Theorie und Methodik der Technikfolgenabschätzung, Technikphilosophie, Technikethik, nachhaltige Entwicklung.

Mit der Performanz der Cyborgs als (universell gedachte) Menschen werden nicht nur unweigerlich Geschlechts-, Klassen-, Race- und Ethnizitätsmarkierungen neu verhandelt, sondern es werden heute neue Begehrensformen und politische Bedürfnisse generiert.

13:20–14:00 Uhr
Irina Gradinari (Hagen): Verkörperte Technologien.
Über den Blick der Cyborgs

Cyborgs im Film sind an der Schnittstelle der filmischen Traditionen, des kapitalistischen Betriebssystems und der digitalen Technologien (z.B. Morphing-Software) verortet, die nun so weit entwickelt wurden, dass das Genre Science Fiction eine grundsätzliche Verschiebung erfährt. Die Zukunft ist nun da: Wir leben in der Zukunft, in multimedialen und pluralen Optionen, in denen die Künstliche Intelligenz als Mensch und Menschen als Maschinen handeln. Mit der Performanz der Cyborgs als (universell gedachte) Menschen werden nicht nur unweigerlich Geschlechts-, Klassen-, Race- und Ethnizitätsmarkierungen neu verhandelt, sondern es werden heute neue Begehrensformen und politische Bedürfnisse generiert. In diesem Zusammenhang werde ich beschreiben, wie in unterschiedlichen Filmen eine solche Verschiebung stattfindet und welche politischen Applikationen für unser Selbstverständnis dies hat.

Dr. phil. Irina Gradinari ist Juniorprofessorin für literatur- und medienwissenschaftliche Genderforschung an der FernUniversität in Hagen. 2011 promovierte Irina Gradinari mit einer Dissertation zu Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa, 2019 folgte ihre Habilitation zu Film als Medium kollektiver Erinnerungen. Geschichtspolitik und Diskurstransfer zwischen Ost und West. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Gender Studies, Gewalttheorien, Erinnerungskulturen, Kriegsfilm sowie die Wechselwirkung von Genre und Gender. Publikationen u.a.: Filmisches Erinnern. Zur Ästhetik und Funktion der Rückblende, (hrsg. m. Michael Niehaus, 2020), Kinematografie der Erinnerung. Bd. 1. Filme als kollektives Gedächtnis zu verstehen (2020).